Begegnung im Wald
Kapitel 1
Mit einem lauten Krachen fiel die Tür ins Schloss, so dass das Holzschild, welches an der schweren Holztür hing und das Symbol einer Apotheke zierte, hin und her wippte, ehe es nach ein paar Sekunden zum Stillstand kam. Der darauf liegende Schnee fiel der Schwerkraft zum Opfer und plumpste mit einem Knarzen zu Boden. Das Mädchen, das soeben aus dem kleinen Haus kam, setzte sich schnell die Kapuze ihres für ihre Verhältnisse zu grossen Mantels auf und atmete tief aus. Eine kleine Nebelschwade entschwand ihrem Seufzer, ehe sie kurz nach links und rechts blickte und daraufhin mit schnellem Schritt loslief. Sie streifte durch unzählige kleine Gassen, bog um eine Ecke nach der anderen ab, doch egal durch welche Strasse sie lief, überall bot sich ihr dasselbe Bild: durch den Schnee bedeckte, verschmutze Gassen, frierende Bettler an den Strassenrändern und hungernde Kinder in zerlumpter Kleidung und kaputtem Spielzeug. Hin und wieder grüsste sie die ihr bekannten Menschen, an denen sie vorbei kam, doch niemals blieb sie stehen. Mit der Zeit und je mehr Treppen sie zwischendurch erklomm, desto breiter wurden die Gassen und das Pflaster gleichmässiger und eben. Einfach gesagt, je mehr an Höhe sie in der Stadt gewann, desto zumutbarer wurden die Zustände. Mit einem kräftigen Satz sprang sie über einen Schneehaufen auf dem Weg hinweg, um gleich danach eine breite, lang nach oben führende Treppe zu erklimmen. Zwei Stufen auf einmal nehmend gelangte sie rasch ans obere Ende der Treppe und fand sich auf einem von Menschen überfüllten Platz wieder. Der Schnee bedeckte den gesamten Boden, der Platz glich einem Marktplatz aus einem Kinderbuch über Märchen. An den Häusern, die um den Platz herum erbaut waren, befanden sich verschiedene kleine Geschäfte und in den engen Nischen zwischen den Häusern hatten sich fremdländische Händler, die mit dem Schiff in die Hafenstadt La Shugáll anreisten, ihren Verkaufsstand eingerichtet. In der Mitte stand leicht erhöht ein grosser, runder Springbrunnen aus Stein, in welchem sich das gefrorene Wasser das gleissende Sonnenlicht eines Wintertages spiegelte. Es war früher Nachmittag und wie immer um diese Zeit war der Marktplatz in vollem Gange. Die Menschen handelten, feilschten und beide Seiten, Käufer sowie Verkäufer, taten ihr bestmöglichstes, um den grössten Profit zu erhalten. Für einen Moment blieb das Mädchen mit dem zu grossen Mantel stehen und wandte ihren Blick nach oben gegen den Himmel. Die Augen des Mädchens waren so klar und blau wie der Himmel an diesem Tag, denn keine einzige Wolke zierte den Himmel, so dass die Sonne ungehindert auf die Stadt scheinen konnte. Das Mädchen hob ihren linken Arm, legte ihn an ihre Stirn und kniff die Augen ein wenig zusammen, um nicht direkt in die Sonne zu schauen. Ihr Blick wanderte über die Dächer der Stadt hinweg zu dem endlos erscheinenden weissen Fleck an deren anderen Ende. Es handelte sich um den an die Stadt angrenzenden Wald, der zur Sommerzeit in sattem Grün erstrahlt. Zu Wintertagen ist er komplett mit Schnee überzogen und nur die braunen Stämme der Bäume lassen einen Wald erkennen. Ihr Blick blieb an den grössten Bäumen des Waldes hängen, ebenso ihre Gedanken. Bis sie einen Entschluss fasste. Das kleine Päckchen, das sie bis zu diesem Zeitpunkt in ihrer rechten Hand transportiert hatte, verstaute sie nun sicher in ihrer Tasche. « Mutter wird warten müssen. », murmelte sie leise und unhörbar für eine andere Person. Ein keckes Grinsen zierte nun ihr Gesicht. Die Sonne begann sich dem Horizont zu nähern, als das Mädchen durch die hohen Tore am Haupteingang der Stadt schritt. Die Wachen schenkten ihr keine grosse Beachtung, denn sie hatten das Mädchen schon öfters durch die Tore passieren sehen und ausserdem gab es wichtigere Passanten, die durchsucht und nach ihrem Aufenthalt gefragt werden mussten. Eine Weile schlenderte sie der einzigen Strasse entlang, die von der Stadt durch den Wald ins Landesinnere führte und die von früh morgens bis spät abends belebt und gut befahren war. Doch als sie auf dem Weg vor ihr niemanden mehr sah, der ihr entgegen kam, und auch gerade niemand hinter ihr war, verliess sie die sichere Strasse und begab sich ins Geäst des Waldes. Es würde niemanden kümmern, ob sie den Wald betrat oder nicht, denn jeder achtete in Bezug auf den Wald auf sich selbst und hoffte, dass er oder sie niemals von der Strasse abkommen würde, um sich nicht zu verlaufen. Trotzdem gab das Mädchen Acht darauf, nicht gesehen zu werden und möglichst schnell zwischen den hohen Bäumen zu verschwinden. Kaum hatte sie die ersten Sträucher und Büsche hinter sich gelassen, verlangsamte sie ihre Laufgeschwindigkeit, um sich an dem Anblick zu ergötzen, der sich ihr bot. Die Bäume in diesem Wald waren deutlich grösser, als sie es normalerweise waren, unabhängig von ihrer Art. Dementsprechend war der Stamm eines einzelnen Baumes dicker und seine Wurzeln reichten weiter als sonst, teilweise schlängelten sich die Wurzeln der Bäume sogar über den Boden entlang. Einige Wurzeln waren überdies so gross, dass sie als begehbare Verbindung zwischen einzelnen Bäumen gebraucht werden konnten. Trotz der hohen Dichte an Bäumen schien die langsam einkehrende Abendsonne durch die von Schnee verdeckten Astdächer und warf ein angenehm goldenes Licht auf den Erdboden, welches durch die Reflektion des Schnees für eine wohltuende Sicht sorgte. Eine ganze Weile schon schlenderte das Mädchen beinahe ziellos im Wald herum und hatte sich zuweilen einige für andere Personen kaum leserliche Notizen über ihr auffällig erscheinende Sachen in ihr kleines Büchlein notiert, als sie in ihrem Augenwinkel bemerkte, wie im hohen Geäst eines Baumes etwas raschelte, woraufhin einige verschieden grosse Schneehaufen von dort aus, wo das Rascheln war, zu Boden plumpsten. Die Miene des Mädchens verdüsterte sich und schnell packte sie ihr Notizbüchlein in ihre Tasche, um gleich darauf ein langes Seil herauszuholen. Dieses benutzte sie, um in Windeseile auf den untersten Ast des ihr am nächsten stehenden Baumes zu klettern, welcher sich bereits in schwindelerregender Höhe befand. Oben angekommen packte sie ihr Seil wieder in die Tasche, kniete sich hin und versuchte sich so, möglichst klein zu machen und sich gedeckt zu halten. « Mensch, Tristan! Du hast aber auch schon besser gezielt! », erklang eine Männerstimme aus einiger Entfernung. Es dauerte nicht lange, da entdeckte das Mädchen auf den Bäumen eine Gruppe Soldaten. Sie erkannte sie sofort anhand ihrer blau-goldenen Uniform: Kaiserliche Ritter. Das Mädchen schnalzte verächtlich mit der Zunge, denn sie konnte diese Ritter und vor allem deren Methoden auf den Tod nicht ausstehen. Dass sie ihr nun ihr Erkundungsgebiet streitig machten, gefiel ihr noch weniger. Dennoch entschied sie sich dafür, ruhig zu bleiben und sich nicht zu erkennen zu geben, sondern die Situation weiter zu beobachten. « Tut mir Leid! » Eine weitere Männerstimme erklang aus der Ferne, sie war jedoch bereits näher als die andere Stimme. Es war eine raue, jedoch kräftige Stimme, die zu einem bereits etwas älteren Herren passen würde. Das Mädchen reckte den Kopf ein wenig aus ihrer versteckten Position, um genauer zu beobachten, um was für Soldaten es sich handelte. Als erstes erblickte sie einen jungen Soldaten, vielleicht ein paar Jahre älter als sie selbst, mit kurzem goldblondem Haar, das seitlich ein wenig vom Wind zerzaust waren. Sein längliches, ovales Gesicht schien makellos und aus seinen braunen Augen konnte sie seinen starken Willen, aber auch Freundlichkeit ablesen. Für einen Mann besass er eher grössere Augen, wie sie im direkten Vergleich mit den anderen Rittern feststellte. Ausserdem durfte er gut eineinhalb Köpfe grösser als sie selbst sein. Er musste einen gut trainierten Körper besitzen, seine breiten Schultern waren ein aufschlussreiches Zeichen dafür. Das Mädchen ertappte sich dabei, wie sie ihn gründlich von oben bis unten musterte und keinen sichtbaren Makel entdeckte. Sie verfluchte den Mann im selben Moment. Als die restlichen drei Ritter, allesamt lachend, in ihr Blickfeld traten, war sie froh, ihre Gedanken von diesem sogenannten Tristan abwenden zu können. Sie untersuchte die Uniformen aller vier Ritter gründlich, kein Anzeichen jedoch für eine höher stehende Instanz: sie alle waren einfache Soldaten, wie sie am Abzeichen auf der Schulterplatte entnahm. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch plötzlich auf ein anderes Geschöpf gelenkt. Auf einem gegenüberliegenden Baum, ziemlich versteckt und beinahe unsichtbar, erkannte sie die verschwommene Silhouette einer Kreatur, die auf den ersten Blick einem Zwergkaninchen mit übergrossen Libellenflügeln glich. Besonders auffallend war zudem das leicht schimmernde weissliche Licht, welches das Geschöpf umgab. Für das Mädchen war sofort klar, worum es sich bei diesem Geschöpf handelte: einen Geist! Ihre bis anhin verdüsterte Mine erhellte sich augenblicklich und sie konnte ihren Blick kaum mehr abwenden von diesem kleinen Geist, der ihr da still gegenüber auf einem Ast sass. In Windeseile hatte sie ihr Notizbuch wieder gezückt und begann sofort, den kleinen Geist darin zu skizzieren. Es vergingen einige Minuten, in denen das Mädchen höchst konzentriert auf das Geschöpf ihr gegenüber war, so dass sie die Stimmen der Ritter unter ihr nur dumpf wahrnahm. Die Ritter im Gegenzug schienen jedoch auch mit sich selbst beschäftigt zu sein, so dass sie das Geschehen über ihren Köpfen nicht ansatzweise bemerkten. Wüssten sie, dass sich auf den Ästen über ihnen ein Geist befand, so würde die Situation bereits anders sein. Das nächste, das das Mädchen hörte, war das tiefe, schallende Gelächter der Soldaten unter ihr. Genervt warf sie einen prüfenden Blick nach unten, um sicherzugehen, dass sie noch immer nicht entdeckt wurde. Sie verdrehte die Augen und wandte sich interessiert wieder dem Kaninchengeist zu. Doch ihre Augen weiteten sich augenblicklich, bei dem Anblick, den sich ihr bot. Der Geist war dabei, kräftig mit seinen Libellenflügeln zu schlagen und wirbelte so natürlich den ganzen Schnee auf dem Ast auf. Dem Mädchen war klar, dass es so nicht lange dauern würde, bis die Ritter seine Präsenz wahrnehmen würden. Doch es war zu spät, denn der aufgewirbelte Schnee fiel bereits häufchenweise zu Boden. Blitzartig begann das Mädchen, hastig mit ihren Armen zu wedeln, dem Geist das Zeichen gebend, er solle damit aufhören. Keine Reaktion. Panisch wandte sie den Blick zu den Rittern. Als sie feststellte, dass die Augen des blonden Soldaten, den sie vorhin genauestens beobachtet hatte, mit grösster Wahrscheinlichkeit direkt den Kaninchengeist anschauten, begann leichte Panik in ihr aufzusteigen. Sie musste verhindern, dass diese einfachen Soldaten der ritterlichen Tradition nachgingen und den Geist töten würden. Ihr Blick wanderte zwischen dem Soldaten Tristan und dem Kaninchengeist hin und her, bis sie ein leichtes Zucken in Tristans Augen bemerkte. « Es wird langsam dunkel. Wir sollten zurückgehen, ehe uns noch Wölfe in diesem Dickicht begegnen. » Tatsächlich war es in der Zeit, die vergangen war, dunkler geworden. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont untergetaucht, so dass es sich nur noch um Minuten handeln musste, ehe die restlichen Lichtstrahlen den Wald nicht mehr erreichen würden. Zustimmend nickten die restlichen Soldaten und machten sich auf den Weg zurück an die Hauptstrasse. Tristan rief ihnen hinterher, er würde nur noch schnell den Pfeil einsammeln, welchen er vorhin ganz schlecht an seinem Ziel vorbei geschossen hatte. Der junge Mann wartete noch einige Momente, bis seine Kollegen nicht mehr in Sichtweite waren und machte sich auf die Suche nach dem verlorenen Pfeil. Blitzschnell reagierte das Mädchen und wandelte ein paar Schritte über den Ast, auf dem sie sich noch immer befand. Als sie sah, was ein paar Meter unter ihr geschehen war, musste sie schmunzeln. « Du hast mit Absicht die Gegenwart des Geistes nicht preisgegeben! » Verwirrt schaute der Junge auf und erkundete sich, woher die Stimme kam. Als er in seinem näheren Umfeld auf dem Boden nichts erkennen konnte, wanderte sein Blick nach oben in die Bäume. Auf dem untersten Ast erblickte er das Mädchen, nicht viel jünger als er selbst. Die Sonne war bereits untergegangen, so dass in der näher kommenden Dunkelheit erst nur ihre Umrisse erkennbar waren. Das Mädchen stiess einen leichten Seufzer aus und mit einem Sprung ergriff sie den hinunterhängenden Ast vor sich. Durch ihr Gewicht zog sie den biegbaren Ast bis beinahe auf den Boden, ehe sie ihn losliess und sicher auf dem Boden auftrat. Sie klopfte den Dreck von ihren dunkelbraunen Lederhandschuhen und ihrem Umhang, ehe sie die übergrosse Kapuze davon nach hinten warf und ihr Gesicht zu erkennen gab. « Wer bist du? », fragte er das Mädchen, das nun direkt vor ihm stand, die Hände in die Hüfte gestemmt. Ihr langes, orangenes Haar war zu zwei Zöpfen auf beiden Seiten ihres Kopfes hochgesteckt und auf ihrem Scheitel befand sich eine dreckige, alte Fliegerbrille. Die hellblauen Augen, umrandet von einem länglichen, jedoch leicht rundlichen Gesicht, blickten direkt in die seinen. « Normalerweise stellt man sich erst selbst vor. » Überrascht über die schlagfertige Antwort des Mädchens, brauchte der Junge einen kurzen Moment, um sich zu sammeln. « Mein Name ist... », begann er. Er stockte eine Sekunde. Er war sich nicht sicher, ob er dem Mädchen mit der zierlichen Figur seinen Namen verraten sollte. « Tristan Dorquân. Und ich frage dich erneut: Wer bist du? » « Entweder musst du einen üblen Ruf haben oder aber deine Familie, dass du so gezögert hast. », antwortete das Mädchen ihm, ohne seine Frage zu beantworten. Ihre Augen begannen erneut, den jungen Ritter kritisch zu mustern. Verärgert kniff der junge Mann seine Augen ein Stück zusammen. Er mochte es nicht, wenn jemand seine Familie in den Dreck zog. « Na, mir soll's egal sein. » Mit den Schultern zuckend zog sie ihren rechten Handschuh aus und streckte ihm ihre Hand entgegen. «Ich bin Elia Shee ol'Phiêtry. » Der Junge griff nach ihrer Hand und schüttelte sie. Beide besassen einen kräftigen Händedruck. |